Wir schwenken in die Zielgerade des Jahres ein, Weihnachten liegt gerade hinter uns und so ist jetzt gerade der ideale Zeitpunkt, um an das berühmte Loriot-Zitat zu denken: Früher war mehr Lametta.
Besonders zu wiederkehrenden Ereignissen wie Festtagen oder auch gegen Jahresende, wenn wir Zwischenbilanz ziehen, beschleicht uns dieser Verdacht: Früher war mehr Lametta, früher war alles besser. Der Christbaumschmuck war irgendwie leuchtender, es gab weiße Weihnachten, die Menschen waren nicht so in Hektik und Eile, der Konsumrausch stand nicht so sehr, jedenfalls war alles viel billiger und überhaupt: All die Probleme, die wir jetzt haben, hat es damals noch nicht gegeben.
Die gute alte Zeit eben.
Auch wenn unmittelbar klar ist, dass das so wohl nicht ganz stimmt, das Gefühl, früher wäre irgendwie alles besser gewesen, dieses Gefühl haben wir alle ab und zu. Warum eigentlich?
Einer der Gründe ist sicher, dass die Nachrichtenlage früher viel karger war. Es gab die Hauptabendnachrichten-Sendung im Fernsehen, eine Viertelstunde, 20 Minuten lang, in die alles hinein gepackt war, was an diesem Tag auf der Welt passiert ist. Und es gab Printmedien, die Tageszeitung und Wochenmagazine. Alles mit beschränktem Platz, und alles kuratiert von Redaktionen, gefiltert, bewertet, ausgesucht. Heute liefern das Internet, Soziale Medien, Podcasts, Blogs einen endlos breiten und tiefen Strom an Information – es gibt kein Limit mehr, weder geografisch, noch inhaltlich, noch zeitlich. Mit allen Vor- und Nachteilen, die das nach sich zieht. Die „Heile-Welt-Bubble“ von damals wurde durch diesen Information Overflow jedenfalls ziemlich rabiat aufgestochen. Daran nagt unser Bewusstsein, wenn wir uns an früher erinnern. Das ist der eine Grund.
Der andere, viel wichtigere Grund, warum wir glauben, das früher alles besser war, lautet: Weil unser Gehirn und unsere Wahrnehmung uns immer wieder ein Bein stellen. Wir glauben, mit unserem klaren Verstand die Welt völlig objektiv zu beurteilen, tun das aber tatsächlich nicht. Weder in unserer Erinnerung, noch in der Gegenwart.
Früher war alles … früher.
Bleibt man nämlich bei den Fakten, dann ist es beinahe egal, welche Daten man heranzieht – Lebenserwartung, Wohlstand, Gesundheit, usw. – man kommt immer zur Erkenntnis, dass es uns heute besser geht denn je.
Auch wenn der eigene Verstand und smarte Marketingabteilungen nach dem Motto „Es gibt sie noch, die guten Dinge“ es uns nahelegen: Früher war nicht alles besser. Früher war einfach nur früher.
Wenn wir nach hinten blicken, dann verklären wir und selektieren die Tatsachen: Dann erinnern wir uns zwar daran, dass das Jolly-Eis nur einen Schilling gekostet hat, aber nicht an Aids, Modern Talking und Vokuhila-Frisuren. Es gibt genug Gründe, die 80er Jahre nicht zu verklären. Zum Beispiel, dass es jene Zeit war, als saurer Regen unsere Wälder gefährdet hat, in unseren Nachbarländern im Osten von Freiheit und Demokratie noch lange keine Rede war, Tschernobyl in die Luft geflogen ist und die Gleichberechtigung für Frauen in ganz weiter Ferne lag.
Wer ist „uns“?
Mit diesem letzten Halbsatz kommen wir einer weiteren Selektionsfalle auf die Spur: Wenn es heißt, früher ist es uns besser gegangen als heute, dann lautet eine der wichtigsten Rückfragen: Wer ist „uns“? Wem ist es früher besser gegangen?
Frauen jedenfalls nicht: Bis 1975 musste der Ehemann die Zustimmun erteilen, wenn die Frau berufstätig werden wollte, die Vergewaltigung in der Ehe ist in Österreich erst seit 1989 strafbar, in Deutschland sogar erst seit 1997.
Wenn man sagt „uns“ ging es besser, dann ist es ganz lohnend, die demographische Grundgesamtheit ein bisschen feiner aufzuteilen – dann wird man feststellen, dass es kaum eine Gruppe gibt, der es damals objektiv besser gegangen ist als heute.
Perspektivenwechsel und Zerrbilder
Wir verklären die Vergangenheit, entgegen aller objektiven Daten. Und wenn wir nach vorne schauen? Dann scheint es so, als ob uns zwischen Corona Kontaktsperren, allgegenwärtigen Krisen und absehbarem Klimawandel der Glaube an die Zukunft abhanden gekommen sei.
Nicht nur in unserer Erinnerung, auch in der Gegenwart sind wir nicht wirklich objektiv. Wenn Sie beispielsweise mehrmals hintereinander von Eisenbahnunglücken hören, gelangt Ihr Gehirn zu der Erkenntnis, dass Bahnfahren sehr gefährlich ist, obwohl das mit Blick auf die Unfallstatistik objektiv nicht stimmt. Dieser Effekt, eine der vielen kognitiven Verzerrungen, die uns unbewußt beeinträchtigen, heißt Verfügbarkeitsheuristik: Wir orientieren uns an den Nachrichten, die unmittelbar vor unserer Nase sind. Das verleitet Sie dann dazu, statt mit der Bahn mit dem Auto in den Urlaub zu fahren, was tatsächlich wesentlich riskanter ist.
Egal, ob wir in die Vergangenheit schauen, die Gegenwart analysieren oder Pläne schmieden: Wir können zwar zu Recht wahnsinnig stolz auf unser menschliches Gehirn sein, aber Denkfehler passieren uns trotzdem am laufenden Band. Nur wenn wir uns ein wenig anstrengen und bewusst reflektiert herangehen, gelingt es uns, einigermaßen objektiv zu sein. Genau dieses Innehalten, reflektieren, mit kühlem Verstand auf Daten zu blicken, und erst darauf eine Entscheidung aufzubauen, ist für Zukunftsarbeit ganz entscheidend, und das mache ich daher in meinen Beratungsprojekten auch sehr häufig mit Kunden.
Die Brille ist nicht rosa. Der Rückspiegel schon.
Zurück zur Ausgangsfrage: Weshalb meinen wir, früher sei alles besser gewesen? Warum verklärt unser Gehirn die Vergangenheit?
Dieser rosarote Rückspiegel ist ein Element unserer Psychohygiene. Indem wir die Vergangenheit schönfärben, zahlen wir auf unser Krisenbewältigungskonto ein, von dem wir dann abheben können, wenn es uns im Heute schlecht geht. Tatsächlich kann Nostalgie unsere Resilienz stärken. Sie verleiht unserer Autobiografie ein Gefühl von Sinnhaftigkeit, die wahrgenommene Kontinuität im Leben dient dann als roter Faden für unser jetziges Dasein. Und sie lässt uns an Momente denken, in denen wir schwierige Situationen schon einmal gemeistert haben. In der Therapiearbeit werden zum Beispiel durch aktives Erinnern an frühere Erlebnisse mentale Ressourcen für die Bewältigung aktueller Probleme aktiviert.
Aber auch wenn das nostalgische Schwelgen in Erinnerungen manchmal ganz gut tut, es ist doch auch immer eine bittersüße Reise in die Vergangenheit. Denn das, was wir da anhimmeln, kommt in dieser Form ja nicht wieder. Wenn uns das klar wird, kann aus den verklärten „guten alten Zeiten“ jener bittere Pessimismus werden, der meint, die besten Zeiten lägen hinter uns. Solange aus fallweise romantischer Verklärung keine dauerhafte Rückwärtsgewandtheit und Gegenwartsflucht wird, ist das an-Gestern-Denken ungefährlich. Erst wenn Nostalgie in dauerhafte Melancholie oder letztlich sogar in die Depression mündet, wird es kritisch.
So weit kommt es in der Regel selten. Häufiger werden allerdings in Politik und auch in Unternehmen durch Nostalgie Entscheidungen beeinflusst. In der Politik sind es vor allem Populisten, die an eine Vergangenheit appellieren, die es in Wirklich niemals gegeben hat, nicht selten auch in Kombination mit nationalistischen Untertönen. Wohin das führt, lehrt uns die Geschichte, und es ist nicht erquicklich: In jüngerer Zeit war die Brexit-Entscheidung mit ihrem Rückgriff auf das Zerrbild der wohlständigen Großmacht Brittannien so ein Beispiel, in den USA hat Trump mit „Make America great again“ ähnliche Emotionen bedient und auch in unseren Breiten gibt es solche Rattenfänger. In Unternehmen existieren Varianten davon: Innovationshemmende Formulierungen à la „Früher haben wir auch keine Smartphones gebraucht, um mit Kunden in Kontakt zu treten“, oder schlimmstenfalls sogar die Maximalvariante des Ideentodes: „Das haben wir schon immer so gemacht“.
Im Limbo der Transformation
Die nahezu unerschöpfliche Disziplin des Change Managements beschäftigt sich mit der Frage, warum sich viele Menschen nur ungern von alten Gewohnheiten lösen, warum sie in scheinbar besserer Vergangenheit schwelgen und sich mit Wandel schwer tun. Gefestigte Grundlage ist die Tatsache, dass Menschen verunsichert sind, wenn das gewohnte und vertraute Alte schon an Bedeutung verloren hat, das Neue aber noch nicht seine endgültige Gestalt angenommen hat.
Das ist gegenwärtig in vielen Bereichen der Fall: Die Arbeitswelt ist spürbar im Wandel, die Rolle Europas in der Welt verändert sich deutlich, wir haben die Jahrhundertaufgabe des Klimawandels zu bewältigen, künstliche Intelligenz beeinflusst zunehmend unser Leben – egal, wohin wir blicken, bewegen sich die Dinge. Wir merken: So wie es bisher gelaufen ist, kann es und wird nicht weitergehen – aber wir haben noch nicht alle Antworten für die Zukunft.
Verunsicherung ist also ganz normal, und daher ist auch der Rückgriff auf vermeintlich positive Erinnerungen ganz normal.
Entscheidend ist aber vor allem eine Erkenntnis: Wir leben nicht in düsteren Untergangszeiten, sondern in hoffungsvollen Aufbruchzeiten! Was uns in den nächsten wenigen Jahren gelingen kann, hat das Potential, die Lebenssituation von uns allen massiv zu verbessern. Wir leben heute in der besten aller bisherigen Zeiten, und die Chancen stehen sehr gut, dass die Zukunft noch besser wird, allen Unkenrufen zum Trotz.
Bei allem Verständnis für sentimentale Gefühle, es ist ganz wichtig, zu lernen, optimistisch und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken und Ängste hinsichtlich der eigenen Zukunft ablegen.
5 Gründe für Zukunftsoptimismus
Der erste Gedanke führt zur Erkenntnis, dass wir – egal wo wir im Leben stehen – auf Ressourcen aufbauen können, die uns auch in der Zukunft helfen werden: Erfahrungen, die wir gemacht haben, Kenntnisse, die wir erworben haben, Freundschaften und Beziehungen, die auch morgen noch tragfähig sein werden. Wir starten nicht bei Null. Sich dieser Ressourcen bewusst zu werden, und sie auch immer wieder aufs Neue auszubauen, stärkt unser Selbstvertrauen.
Zweitens leben wir im besten Zeitalter, die Zukunft zu gestalten, denn nicht nur der oder die Einzelne verfügt über Ressourcen, sondern der gesamten Welt stehen mehr und bessere Möglichkeiten zur Verfügung, als jemals zuvor, egal ob in Wissenschaft, Informationstechnologie, Medizin, Forschung. Es stimmt schon, wir haben große Aufgaben vor uns, herausfordernde Probleme in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu meistern, aber welch ein Glück, dass diese Aufgaben jetzt auf uns warten, in einer Zeit, in der wir über diesen Reichtum an technologischen und sozialen Möglichkeiten verfügen.
Drittens ist Optimismus ohnehin die pragmatische Sichtweise, die uns aus der Passivität holt. Am Beginn unserer persönlichen Handlungsfähigkeit steht genau die Einsicht in eben diese Fähigkeit: Ich bin nicht allmächtig, kann nicht alles verändern – ich bin aber auch nicht ohnmächtig, ich kann etwas bewegen.
Viertens ist genau diese Selbstwirksamkeit auch ein sozialwissenschaftlich enorm wichtiger Gedanke. Der Ausbruch des Menschen aus seiner letztlich selbst verschuldeten Unmündigkeit ist das vermutlich erhellendste Resultat der Aufklärung. Und es hat seit damals weite Kreise gezogen, über das Bürgertum hinaus. So heisst es beispielsweise auch in der Internationale, dem Lied der Arbeiterbewegung:
Es rettet uns kein höh’res Wesen,
kein Gott, kein Kaiser noch Tribun
Uns aus dem Elend zu erlösen
das können wir nur selber tun!
Die Zukunft ist nicht determiniert, weder durch höhere Mächte, noch durch Automatismen oder durch andere Instanzen. Wir sind nicht hilflose Opfer, sondern Gestalter der Zukunft. Das ist letztlich eine sehr mächtige Botschaft, aber es knüpft sich auch die Verantwortung daran, diese Verfügungsmacht auch auszunutzen.
Und schließlich fünftens stärkt uns hoffentlich doch das Vertrauen in die Einsicht des Menschen, grundsätzlich vernunftbegabt zu entscheiden und zu handeln – zumindest in der langfristigen Beschau hat sich das ja als richtig erwiesen.
Der Blick nach vorne – ohne Lametta
In diesem Sinne: Lassen Sie das ausklingende Jahr Revue passieren, freuen Sie sich über Erreichtes, haken Sie Unerfreuliches ab und stärken Sie sich mit noch verbliebenenen Weihnachtskeks und einer riesen Portion Zuversicht für die kommenden Aufgaben und Abenteuer, die das nächste Jahr bringen wird.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Lieben erholsame Tage und einen guten Rutsch ins Neue Jahr.
Filed under: Leadership, Life, Zukunft, Blick nach vorne, Jahreswechsel
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